Von schwerhörig gebombt zum Mehrwert der Schwerhörigkeit: Ein Gespräch mit Bernd Rehling

Sommer 1974. Am frühen Nachmittag des 17. Juli explodiert ohne Vorwarnung eine Bombe im Tower of London. Der ist wie üblich mit Touristen überfüllt. Eine Frau stirbt — neun Schwerverletzte und über 30 leicht Verletzte, meist Kinder. Einige verloren Arme oder Beine. Der Bremer Realschullehrer Bernd Rehling, gerade dreißig Jahre alt, verlor fast sein ganzes Gehör.Foto: Bernd Rehling

Mit Hörgeräten versorgt lehrte er danach noch über 20 Jahre weiter. Und ist heute einer der profiliertesten Akteure in der deutschen Hörbehindertenszene: 1997 gründete er mit einer Gruppe Gleichgesinnter das Informationsportal Taubenschlag und bringt täglich die Presseschau deafread heraus.

Not quite like Beethoven spricht mit Bernd Rehling über die schwierige Zeit als Neu-Schwerhöriger und wie er sich als Lehrer an der Hörgeschädigtenschule selbst neu erfand. Über Segen und Gefahren des Internets für Schwerhörige — und über das Leben zwischen den Welten: weder gehörlos noch normalhörend. Nach dem Klick.

Du hast mit 30 Dein Gehör durch einen Anschlag verloren. Wie bist Du damit zurechtgekommen, dass es für Deine Schwerhörigkeit Schuldige gibt?

Also die Attentäter habe ich schon verflucht. Die konnten sicher nicht ahnen, was sie angerichtet haben. Aber die Forderung nach der Todesstrafe, die gleich anschließend in der britischen Presse auftauchte, konnte ich nicht nachempfinden. Die Schwerhörigkeit als Folge des Knalltraumas war anfangs das geringste Übel. Der von einem Bombensplitter zerschmetterte Oberschenkel fesselte mich für 4 Monate ans Bett. Das stand in einer (damals?) typisch englischen Krankenhausstation. Ein Saal mit ca. 20 Betten. Da hätte ich theoretisch gut Englisch üben können. Allerdings konnte ich wegen der Schwerhörigkeit selbst meine Bettnachbarn nur mit Mühe verstehen. Und jedesmal nachfragen, wenn ich Besucher oder Personal nicht verstanden habe, fand ich nervig. Ich habe dann auf das Schild hinter meinem Bett hingewiesen: „Speak up, I’m deaf!“

Ich habe da diverse Operationen über mich ergehen lassen müssen. Hatte eigentlich die Schnauze voll davon. Aber als Schwerhöriger nach Deutschland zurückkehren? Womöglich mit Hörgeräten, wie ein alter Opa? Nein, ICH NICHT! Also habe ich auf einer Ohren-Operation bestanden. Die hat allerdings nichts gebracht. Also bin ich dann doch mit zwei HdO-Geräten [Hinter dem Ohr-Geräten], die mir der englische Gesundheitsdienst NHS  „spendiert“ hatte, nach Deutschland zurückgekehrt.

Wie hast Du dich dann in der neuen Situation zurechtgefunden? Wer hat Dir geholfen mit der Schwerhörigkeit umzugehen?

Das war anfangs natürlich gar nicht witzig. Sofort in die Schule, die „hörende“ Schule, zurückkehren konnte ich nicht. Ein halbes Jahr hatte ich Sonderurlaub, danach habe ich ein Jahr lang mit halber Stundenzahl unterrichtet. Die Situation in der Schule war entnervend. Als Lehrer muss man möglichst schlagfertig sein und schnell reagieren können. Konnte ich früher auch, aber als Schwerhöriger habe ich oft nur gestaunt, dass plötzlich die ganze Klasse lachte. Ich hatte die witzige Bemerkung des Schülers nicht mal gehört!

Geholfen hat mir außer den Hörgeräteakustikern und Ärzten eigentlich niemand. Ich habe noch zwei weitere Ohren-OPs über mich ergehen lassen. Aber mit der neuen kommunikativen und psychischen Situation fertig zu werden — dabei hat mir eigentlich keiner geholfen. Damit musste ich schon alleine klarkommen.

Du hast dann noch über 20 Jahre weiter gelehrt. Wie hast Du das geschafft?

Weil es in der Regelschule beim besten Willen nicht mehr ging, hat mein damaliger Schulleiter vorgeschlagen: „Gehen Sie doch probeweise mal an die Schwerhörigenschule. Da sind sie unter Ihresgleichen.“ Recht hatte er. In Schwerhörigenklassen konnte ich z.B. Klassenhöranlagen* mitbenutzen. Und wichtiger noch: Ich konnte die Situation der Schüler nachempfinden, war einer von ihnen. Das ist während der ganzen Schulzeit dort und auch danach, bis heute, so geblieben. Die Schüler haben mich immer als einen der ihren empfunden. Mir war klar: DAS ist mein neuer Bereich! Da fühle ich mich wie der Fisch im Wasser.

Meine Examensarbeit hatte ich über „MEIN“ Thema, nämlich „Hörgeschädigte Lehrer von Hörgeschädigten“ geschrieben. Da war ich zum einen auf die Geschichte der Gehörlosen, z.B. die Mailänder Beschlüsse von 1880 und das Verbot von Gebärden und gehörlosen Lehrern gestoßen. Zum anderen bei einer Umfrage – und einem Praktikum in England – auf gehörlose Kollegen, die für mich richtungweisend waren. Da gab es nicht mehr das Oben und Unten von hörenden Lehrern und gehörlosen Schülern. Statt dessen Augenhöhe! Nicht Behinderung, sondern Zugehörigkeit zu einer sprachlichen Minderheit.

Mit diesen Vorstellungen war ICH dann allerdings im Kollegium in einer Außenseiterposition. Hörende Kollegen konnten mit „Deaf Pride“ und „Hörgeschädigte Lehrer sind vorbildlich“ nichts anfangen. Insofern war ich dann froh, als ich mich frühpensionieren lassen konnte.

Soweit sich das allgemein sagen lässt: Welche Tipps kannst Du Schwerhörigen für ihre Aus- und Weiterbildung geben?

Die hab ich so eigentlich gar nicht. Ich sehe die Bedeutung von deaf role models nach wie vor, aber bei gehörlosen Lehrern ist das Problem, dass es kaum noch gehörlose Schüler gibt. Da wird das sichtbar, was die britische National Union of the Deaf (NUD) schon vor fast 30 Jahren prophezeit hat: Ruhe in Frieden, Gehörlosengemeinschaft — ausgerottet von den Oralisten per Integration und CI. Das bezieht sich jetzt aber nur auf den Bereich der Pädagogik.

Dass es ansonsten möglichst viele hörgeschädigte Akademiker geben sollte, ist klar. Glücklicherweise gibt es ja jetzt einige gehörlose Ärzte, Anwälte usw. Die heben nicht nur das Ansehen ihrer Minderheit, sondern können sich mit ihren Fähigkeiten und Kenntnissen auch für sie einsetzen. Der Weg dorthin ist natürlich steinig und nur mit Dolmetschern, technischen Hilfsmitteln und dem Zusammenhalt untereinander, wie z.B. durch die Bundesarbeitsgemeinschaft hörbehinderter Studenten und Absolventen (BHSA) und iDeas, möglich.

Du hast schon Mitte der 1990er Jahre auf die Möglichkeiten des Internet gesetzt. Was ist hier die wichtigste Entwicklung? Worauf sollten Schwerhörige, Ertaubte und Gehörlose achten?

Mit dem Internet bekamen Hörgeschädigte bisher ungeahnte Möglichkeiten der Kommunikation und der Bildung. Anfangs ein kleiner Haken: Das Internet war und ist textbasiert. Und genau das ist die Schwäche vieler deafies: die Sprachkompetenz im Deutschen. Mittlerweile gibt es aber eine Vielzahl von Videos in der Deutschen Gebärdensprache (DGS), und die Kommunikation spielt sich per Webcam und Programme wie Camfrog ab.

Wie wohl alles hat auch dieser technische Fortschritt seine Licht- und Schattenseiten. Es gibt Gehörlose, die süchtig werden, ihre Kinder vernachlässigen und eine regelrechte Therapie brauchen. Andererseits sind die Horizonte Gehörloser ausgeweitet wie nie zuvor, ihnen sind Informationen zugänglich, weltweit, aktuell, wie Hörenden, und Einsamkeit gibt es wohl kaum noch!

Ein erfülltes und glückliches Leben mit Schwerhörigkeit, wie macht man das?

Selbst wenn man das Handling der eigenen Hörschädigung im Sinne von Anja Meulenbelts Buchtitel „Schaamte voorbij“ [dt. Die Scham ist vorbei, mehr Info siehe z.B. hier] definiert, bleibt immer noch das Defizit. Der Mensch minus Gehör. Für mich selbst hat das bedeutet, mich mehr an der „Extremvariante“ der Gehörlosen zu orientieren. Die haben nicht nur das Minus und die Behinderung, sondern eben auch eine eigene Sprache und Kultur. Das fand ich faszinierend. Nicht eine Behindertengruppe, sondern eine quasi ethnische Minderheit, wie Sorben, Juden, Indianer…

Wenn man so denkt, erscheint der momentane Inklusions-Hype in einem ganz anderen Licht. Keine Sonderschulen und Förderzentren mehr, um Integration/Inklusion voranzutreiben? Genauso kann man die Abschaffung von Schulen der dänischen, sorbischen oder jüdischen Minderheit propagieren. Auf die Idee käme sicher keiner. Ich finde es großartig, wenn gehörlose Eltern ihren gehörlosen Kindern kein CI einsetzen lassen, weil sie sie nicht für „reparaturbedürftig“ halten, sondern so wie sie sind als gut und als neue Mitglieder ihrer Gemeinschaft akzeptieren. Sie sind eine Variante der menschlichen Spezies, setzen ein Zeichen der Vielfalt.

Bei uns Schwerhörigen ist das schwieriger. Wir sitzen zwischen den Stühlen. Wer sich mehr an den Hörenden orientiert, wird permanent mit Defizit leben müssen. Und wer sich an den Gehörlosen orientiert, ist der einbeinige König unter den Lahmen? Auf jeden Fall hat er eine „Heimat“, in der er nicht als behindert gilt. Optimal eigentlich, wenn man sich in beiden Welten bewegen und wohlfühlen kann. Da hat man dann auch als Schwerhöriger einen „Mehrwert“, aufgrund dessen man glücklich leben kann, weil man schwerhörig ist. Für mich hat sich jedenfalls ein völlig neuer Lebensbereich eröffnet, den ich nicht mehr missen möchte und in dem ich mich pudelwohl fühle.

Bernd, vielen Dank für die interessante Unterhaltung!

Mehr über Bernd Rehling gibt es Anfang Juni in der Sendung „Sehen statt Hören“ im BR Fernsehen.

*Systeme zur induktiven Schallübertragung direkt in das Hörgerät Update: Da ist leider der heutige Stand der Technik mit mir durchgegangen. Bernd weist mich gerade darauf hin, dass Klassenhöranlagen damals „verkabelte Anlagen mit Mikros und Mikro-/Kopfhörer-Headsets“ waren.

2 Antworten zu “Von schwerhörig gebombt zum Mehrwert der Schwerhörigkeit: Ein Gespräch mit Bernd Rehling

  1. Kann ja jeder behaupten, dass man Opfer eines Bombenanschlags war und deswegen schwerhörig ist. Könnte auch wegen Krankheit oder Lärm gewesen sein. Wo sind die Beweise zB Meldungen in der Presse, Befunde usw.?

  2. Natalie, oben steht ja, dass es Lärm war: Knall- bzw. Explosionstrauma. Und einige Pressemeldungen findest du per google.

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