Zuhören auf schwerhörig: Warum sagen Schwerhörige eigentlich so oft „jaja“ auch wenn sie nichts verstanden haben

Sag’s doch wenn Du was nicht verstehst! Einer der Sätze, den Schwerhörige am häufigsten hören. Ich kenne ihn auch oft genug gemischt, mit ein bißchen Aggression, weil sich mal wieder herausgestellt hat, dass ich etwas nicht verstanden aber dennoch „jaja“ gesagt habe. Ich habe auf diese Weise sogar einmal den Umzug meiner Freundin verpaßt, bei dem ich eigentlich helfen sollte. Zumindest muss ich das annehmen, denn ich weiß nur, dass ich sie einmal anrief — und sie sagte: „Wir haben gerade alles zu zweit hochgeschleppt, danke.“ Sie hat es mir immer noch nicht verziehen.

Warum also sage ich und sagen all die andern nicht Bescheid, sobald ich etwas nicht verstehe? Sind die alle verschüchtert oder zu bequem? Nein. Es ist ein bißchen komplizierter.

Kurz gesagt: Ich mache das weil ich guter Hoffnung bin. Und eigentlich keine andere Wahl habe. Ich verstehe so vieles nicht, das können sich meine Gegenübers gar nicht vorstellen. Hier und hier habe ich das mal ein bißchen beschrieben. Es ist im Grunde gar nicht machbar, jedesmal Bescheid zu sagen und dennoch ein Gespräch zu führen. Eher müsste ich Bescheid sagen wenn ich mal was klar, deutlich und ohne Zweifel verstanden habe. Dann allerdings könnte ich eigentlich auch gleich eine Flasche Champagner aufmachen!

Hinzu kommt, dass es nicht nur mühsam ist, sondern oft auch die Situation zerstört, häufig nachzufragen. Zum Beispiel weil andere Leute mit am Tisch sitzen, das Gespräch aber alle zwei Minuten für eine unterbrochen werden muss, damit ich einen einzelnen Satz von irgendjemandem verstehe. Der meist auch noch nicht einmal besonders wichtig war. Aber das weiß ich ja vorher nicht.

Also betreibe ich die schwerhörige Variante des Zuhörens: Den anderen zum Reden zu bringen um so mehr Informationen zu haben — Verstandenes, von dem aus man das Nichtverstandene erschließen kann. Und dabei zu hoffen, dass solange alles gut geht.

In meinem Kopf läuft das ungefähr so ab: Hm, die Augen sind weit aufgerissen, er scheint sich über etwas zu beschweren. Ah, dieses Wort hab ich eben schon mal gehört, was war das noch gleich? Kino? Oder war es Lino, sein Vetter? Oder vielleicht Lido? Bekomme ich gerade von einer Reise nach Venedig erzählt? Nein, ehrlich, wie ein Urlaubsbericht sieht das nicht aus. Ah! Alkohol hat er gesagt. Au weia, heftige Gestik! Also geht’s um Lino, der hat wohl wieder angefangen zu trinken….

Schlimm ist dabei nur, wenn das eine Zeitlang so geht, nicht klappt — und dann auf einmal Schweigen herrscht. Womöglich die Tonlage kurz vor dem Schweigen noch hochgezogen wurde, so dass ich annehmen muss, dass ich was gefragt wurde. Was nun? Zugeben, dass ich schon eine ganze Zeitlang nichts verstanden habe? Soll ich so gut wie mir möglich antworten — und riskieren, entweder was völlig Danebenliegendes zu sagen oder zuzustimmen/abzulehnen ohne genau zu wissen wozu? Soll ich weiter auf Zeit spielen und „Wie meinst Du?“ fragen, weitere Informationen anfordern. Besonders mit Un- oder Neubekannten sind das wirklich keine einfachen Fragen!

Wenn mir offensichtlich keine gestellt wurde, kann ich immerhin das Thema wechseln — da weiß ich dann wenigstens worum es geht. Jedenfalls meistens, haha. Nur leider gibt es ja geschicktere und weniger geschickte Themen, die man im Anschluss an andere anschneiden kann.

Warum sagen Schwerhörige also so oft „jaja“? Weil es eine freundliche, diffus zustimmende und zum Weiterreden animierende Geste ist. Weil es unter vielen Umständen das kleinste wählbare Übel ist. „Jaja“ ist der treueste Helfer des Schwerhörigen im schwierigen Verkehr mit anderen Menschen.

29 Antworten zu “Zuhören auf schwerhörig: Warum sagen Schwerhörige eigentlich so oft „jaja“ auch wenn sie nichts verstanden haben

  1. Da kann ich nur zustimmen, das ominöse „jaja“…
    Im engeren Freundeskreis ist es zum Glück nicht so schlimm da kennt man sich ja besser un traut sich mal nachzufragen aber bei Fremden/nicht so bekannten nicke ich auch oft damit es weitergeht und versuche aus dem Verlauf irgendwas rauszufinden …
    Ps. Den Blog hier find ich Klasse 😉

  2. Ich (als Nicht-Schwerhöriger) habe mich schon oft genug erwischt die »Jaja«-Floskel zu missbrauchen. Wenn ich nicht richtig zugehört habe, weil ich abgelenkt war, weil mich das Thema nicht interessiert hat. Wenn ich das Gespräch nebensächlich, vielleicht sogar überflüssig fand. Wenn es ringsumher laut ist, durch Musik, Verkehr, Baustellen, was auch immer.

    Wenn ich nicht genau wusste worauf mein Gegenüber mit dem Gesagten eigentlich hinaus wollte. Wenn man Angst hat den Gesprächspartner zu verärgern, indem man gegen ihn Stellung bezieht, und sich die Querelen ersparen möchte.

    Man will ja auch nicht jedem auf die Füße treten =)

    Danke für den schönen Artikel.

  3. Kilian, danke, ich hoffe das bleibt so.

    ph, ich sehe wir verstehen uns 🙂

  4. Jetzt verstehe ich auch, warum du nach meinem ausdrücklichen VERBOT, die USA zu verlassen, einfach „Jaja.“ gesagt und trotzdem in den Flieger gestiegen bist. 😉

  5. Oh ja, dieses Thema kennt wohl jeder Schwerhörige. Wenn ich während eines Gruppengesprächs jedesmal nachfragen würde, wenn ich etwas nicht verstanden haben, könnten wir auch gleich zuhause bleiben. Schlimm sind auch Meetings, da will ich noch viel weniger unterbrechen und warte im Zweifelfalle auf das Protokoll. Wenn mir das Thema wichtig erscheint, frage ich natürlich auch nach, aber spätestens nach den nächsten zehn Sätzen habe ich den Faden wieder verloren.

  6. Berlinessa, jaja. Aber irgendwer mußte ja Deine Ankunft hier vorbereiten 🙂

    Nikana, immerhin GIBT es bei beruflichen Sitzungen meist ein Protokoll.

  7. Ok, das ist ja alles ganz logisch. Auch ich als Hörende sage schon mal „jaja“ wenn ich nicht zugehört habe.
    Aber: Wenn ich meiner schwerhörigen Oma was erzähle und sie nickt immer, denke ich doch sie versteht mich. Aber dann stellt sie eine Frage, die ich einen Satz vorher schon beantwortet habe. Das ist auch anstrengend.
    Anderseits: Würde bei jedem Satz nachgefragt, wäre es mindestens genauso anstrengend. Und bei Gruppengesprächen sogar störend.
    Zwiespalt… wieder so eine Frage, auf die es keine Antwort gibt: Besser nachfragen oder einfach nur „jaja“ sagen?

  8. Darauf gibt es, glaube ich, keine Antwort, das ist das ewige Dilemma der Schwerhörigen…

  9. Ich habe zwar ein recht gutes Hörvermögen, was Töne (im Sinne von Frequenzen) angeht, aber je nach Umgebungsgeräuschen fällt es mir manchmal auch schwer, mich auf mein Gegenüber zu konzentrieren und dem Gespräch zu folgen. Meine Gedankengänge kommen dem nahe, was du beschreibst – nur mit dem Unterschied, dass ich darin nicht besonders geübt bin. Dann ertappe ich mich immer wieder einmal, dass ich den aufgeschnappten Wörtern doch nicht den richtigen Zusammenhang gegeben und (mindestens) einmal zu oft „jaja“ oder ähnliches gebrummt habe…

  10. Na solang die anderen einen nicht zu oft dabei ertappen… 😉

  11. Schwer-/Nichthörende müssen viel mehr denken beim Zuhören als andere, weil immer dieser Vergleichsprozess abläuft, wie du ihn beschreibst. – Wahrscheinlich steht mir das noch bevor, dieses so gut wie nichts mehr hören, aber dann bin ich zum Glück nicht mehr jung.
    Sehr interessant für mich zu lesen.
    Clara

  12. Bitte, freut mich. Ich bin aber ehrlich gesagt, nicht sicher ob Dabei-Altsein es wirklich besser macht. Da hat man dann nicht die Profilierungsprobleme der Pubertät aber vielleicht wird man dann eher für senil gehalten….

  13. Die schwerhörige Variante des Zuhörens kann ich recht gut. Ich nenne das „Zusammenreimen“ aus dem was ich verstehe… Lustig wird das Ganze wenn du deine Freundin gefragt hast was das Harry-Potter-Fanfilmprojekt macht, sie dir und einen weiteren Kumpel den Inhalt erzählt und du die Technik das Zusammenreimens anwendest+ mit lebhafter Fantasie gesegnet bist d.h. Kopfkino hast und bei dir ankommt das Lord Voldemort irgendwas im Zusammenhang mit Harry oder Ron, …weiß nicht mehr wers war im Pyjama tut. Was natürlich zu Zitat Freundin: „bööösem Kopfkino“ bei dir plus Lachanfall führt… der aber passt weil der Film eh eine Parodie ist…

    Ich sag statt jaja gerne mhh oder nu…

  14. Das „jaja“ ist ja nicht zwingend. Man muss sich eben der Situation anpassen.Und wenn es alle mit Humor nehmen, umso besser. Ich habe schon manchmal gedacht, ich müsste ein Buch schreiben: „Die Welt, wie sie wäre, wenn sie so wäre, wie ich sie höre.“ 🙂

  15. Pia Butzky

    „Nu“? Du sagst „nu“, Eluchil?
    Ist ja putzig. Sagst du das etwa sächsich? Stelle ich mir lustig vor im Gespräch. Eine frühere Schulfreundin sagte immer „woll“ am Ende eines Satzes, meistens fragend. Kam aus dem Ruhrpott, sprach aber keinen Dialekt.

    Ich sag immer: „Ach“.
    Funktioniert auch. Das Loriotsche „Ach“ mit gedachtem Ausrufezeichen. Passt immer und suggeriert Zuhören.

  16. Außer dem — drüben in dem Video kongenial verwendeten „verstehe“ — hätte ich auch noch „klar“ und „nee, oder?!“ anzubieten. Für zurückhaltende Sprecher, die ein bißchen Schubs brauchen.

  17. Bibi Blocksberg

    Es ist so göttlich hier, ich bin noch nie so vielen Gleichgesinnten begegnet – immerhin virtuell. Danke für die Beiträge, hab schon wieder so gelacht. Und ehrlich: Auch wenn es gelesen und im Nachhinein lustig ist: Mittendrin erfordert es oft schon extrem viel Abstand, um das mit Humor zu nehmen.

  18. Sehr schön, freut mich. Zum Abstand: Vielleicht könnte man sich ja eine regelmäßige Erinnerungsfunktion ins Handy programmieren, so eine Art Knoten im Taschentuch, der regelmäßig daran erinnert: Nimm’s locker.

  19. Mein Nachbar macht mich irre mit seinem „jaja“… Wenn er wenigstens sagen würde, dass er mich nicht versteht, dann könnte ich mir mehr Mühe geben oder wir einigen uns eben drauf, dass es grad nichts wird mit dem kommunizieren. (CI nicht dabei, Batterie leer, grad zu anstrengend… Würd ich ja einsehen!) Aber immer so ein vages „jaja“, bei dem ich dann raten kann, ob er verstanden hat und nicht interessiert ist, grad nicht verstanden hat oder nichtmal weiss, was grad Thema war… Ich weiss gar nicht, wie oft ich schon frustriert über diese Kommunikationsverweigerung war, wenn wir auseinander gingen.

    Aber schön mal zu erfahren, wie die andere Seite das sieht. 🙂

  20. Naja (man beachte das „na“! 😉 ) bis in das Extrem, das Du da beschreibst, würd ich’s ja definitiv nicht treiben wollen. Das bringt ja niemand was und dürfte die konkrete andere Seite auch als unbefriedigend empfinden. Manchmal brauchen Schwerhörige auch nen Piekser, also nicht aus Höflichkeit zurückhalten wenn Du merkst was abgeht!

  21. Ja, der Fall liegt wohl auch etwas anders, und auf Höflichkeit zu verzichten wäre sicher für beide Seiten gut. Blöd wenn er mir dann schon den Rücken zudreht. 😉

    Btw., toller Blog! Mal sehen, ob ich mit den hier gefundenen Hinweisen besser mit dem Nachbarn umgehen kann.

  22. Oh. Na, vielleicht interessiert’s ihn ja wirklich nicht die Bohne was Du selbst im interessantesten Fall möglicherweise gesagt haben könntest.

    Ansonsten: Dankeschön! 🙂

  23. Pia Butzky

    „Oh. Na, vielleicht interessiert’s ihn ja wirklich nicht die Bohne …“
    🙂 Köstlich. *lach*

    Jau, stimmt, es lohnt oft nicht die Anstrengung, das ist auch ein Grund, weshalb ich einfach nicke, obwohl ich nichts verstanden habe: Man möge es gut sein lassen und schweigen.

    Aber genauso häufig ist es eben einfach nicht möglich, zu benennen, was man nicht verstanden hat, denn die fehlenden 60% im Sprachverstehen sind eben nicht sauber in den drei oder vier letzten Worten eines Satzes sortiert, sondern fehlen in ALLEN Worten – ständig.

    Beispielsatz 40% akustisches Verstehen: „..ie cheelmn .. malln Uortgn.“
    Jetzt 6 Sekunden angestrengte Dekodierarbeit und ermittelt ist der Satz: „Sie fehlen in allen Worten.“

    Was ich dekodiert habe, nicke ich als erledigt ab, aber mein Gegenüber denkt, ich stimme inhaltlich zu. Während ich noch am Dekodieren bin, labert mein Gegenüber gnadenlos weiter und fragt plötzlich „Hast du das verstanden“? Was soll man da antworten? „Moment, bin gerade noch bei den harten Konsonanten in vorletzten Satz, aber die Vokale habe ich wohl schon weitestgehend gecheckt bis auf das harte A, als du die Tasse auf dem Tisch abgesetzt hast. Das könnte auch ein Geräusch gewesen sein und kein Vokal. Gib mir noch 3 Sekunden, dann habe ich das mit dem Themenbezug abgeglichen und semantisch ausgewertet.“ (Schnell nachdenk: Seine Freundin heißt Klara, er hat grad Stress mit ihr, also hat er wohl Klara mit lautem A gesagt und es war nicht die Tasse.) Weil ich aber vielleicht grad keinen Bock habe auf Genörgel habe, möchte ich mir die Dekodieranstrengung für sowas gerade nicht antun müssen und lieber entspannt in der Gegend herumschauen. Geht aber nicht, wenn man wie ein Hund immer wieder zurückgepfiffen wird mit der Kontrollforderung „Hast du das verstanden?“

    So oder so: Verstehen bleibt langfristig ein Problem. Ist nun mal so.

  24. Hehehe, das hast du wunderbar beschrieben, die Decodierarbeit. Genauso fühlt es sich an.
    Außerdem: Ich bin da für Gleichberechtigung und pfeife unbesehen jeden zum Gespräch zurück wenn ich rede! Egal ob schwerhörig oder nicht. Sonst kann ich doch auch schweigen.

  25. Pingback: „Um Gottes Willen, eine Frage!“ Männer, Frauen — und Schwerhörige | Not quite like Beethoven

  26. Vielen Dank nqlB für Deine Gedanken. Deine Offenheit. Vielen Dank für die jahrelangen Diskussionen. Ich lese seit Tagen abends diesen Blog. Seite für Seite. Steige in eine Welt, die ich selbst nie erfahren werde. Vollziehe Schritt für Schritt das Leben als Schwerhöriger nach und bilde mir immer mehr ein, nun verstehen zu können, wie es ist, nicht alles hören zu können. Sehr aufschlussreich, was ich hier lernen kann. Ich freue mich sehr, diese Seite gefunden zu haben. Nirgends sonst konnte ich so intim und detailliert nachlesen, was man als schwerhöriger empfindet und so nun besser auf die Welt meines Sohnes eingehen, wie er sie erfahren wird.

  27. Vielen Dank, was Du sagst freut mich sehr. Und ich hoffe, es stimmt dich optimistisch für Deinen Sohn. : )

  28. Hallo, mein Kommentar kommt zwar ein bischen spät (habe den Blog auch heute erst kennengelernt)….bei mir kommt auch so oft ein „Jaja“ und dann ein oftes Du hast doch Ja gesagt…mein ist aber oft…ich verstehe etwas, sage „ja“ weil ich echt der Meinung bin das mein Gegenüber „A“ sagte wobei es aber dann doch „B“ war… deswegen immer öfter…lächeln, immer lächeln und nix sagen… vielen vielen Dank für die vielen Texte die mich wissen lassen das ich nicht so alleine bin wie ich dachte…

  29. Bitte, sehr gern geschehen! : )

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