Mit Bekenntnissen sind die Leute schnell bei der Hand, wenn es um Andersartigkeit und Behinderung geht. Die soll keine Rolle spielen, alle seien gleichberechtigt, das Wesentliche sei für die Augen unsichtbar — sagen sie dann etwa.
Sind sie aber tatsächlich im Alltag mit Andersartigkeit und Behinderung konfrontiert — sagen wir: einem Schwerhörigen, der sich im Gespräch verhält als sei er nicht besonders helle oder gar dement, mit wirklich sehr dicken Menschen, mit heftig Schielenden oder einem Körper, der so feingliedrig und kantig ist, dass er kaum die Sitzfläche des Rollstuhls ausfüllt, auf der er sitzt — sind sie also tatsächlich damit konfrontiert, dann sieht die Sache meist anders aus. Und ich nehme mich da selbst gar nicht mal aus. Da reagieren die Leute dann ungehalten, eingeschüchtert oder sogar angeekelt. Sie sind in ihren Vorstellungen von Normalität und Abweichung und ihren gefühlsmäßigen Gewohnheiten gefangen. Sie sind davon bedrückt.
Ich finde es gut, wenn man dies nicht verleugnet. So zu tun als wäre es nicht da, wenn es doch da ist und einen verunsichert, weil man es nicht gewohnt ist, bringt niemanden etwas. Dazu zu stehen, zumindest sich selbst gegenüber, ist der einzige Weg zu entspanntem Umgang.
Sex mit Behinderten — Zu diesem delikaten Thema hat Hans Ulrich Gumbrecht schon vor einiger Zeit einen Text seines Freundes Klaus Birnstiel in sein Blog geholt. Der Text ist ziemlich provokant, ich finde ihn gut. Schaut mal rein. Was mich heute aber mehr interessiert ist: Gumbrecht hat ihm eine Einführung vorangestellt, in der er beschreibt, wie er die erste Begegnung mit Birnstiel erlebte. Dieser stellte ihm nach einem Vortrag eine Frage:
Das finde ich sehr ehrlich gesagt. Und das wiederum finde ich gut.
Also : Der Text gefällt mir ebenfalls. Er zeigt die Schwierigkeiten deutlich auf, die man hat bei einer körperlichen Behinderung, und der dazugehörigen Sexualität. Das Problem ist nicht die Sexualität, sondern dass der Körper eben anders erscheint, anders präsent ist.
Lustigerweise ist das bei behinderten Männern anders, ein Kollege von mir, der ebenfalls Rollifahrer ist, wird von Frauen umschwärmt. Er kann sehr charmant sein. Was ihn aber nicht daran hindert, genau so daran teilzunehmen. Aber bei einer Frau mit einer körperlichen Behinderung wird der Wahn des Schönheitskultes so deutlich.
In der Hinsicht denke ich, dass das eigentlich befremdende für die Leute ist, dass der Körper des anderen, der behindert ist, so anders ist als es man kennt. Auf den Punkt gebracht : Das andere ist immer fremd.
Und : das Fremde verunsichert eben auch, weil man gar nicht weiss, wie man damit umgehen soll.
Und ich sehe da die Frage förmlich aufleuchten : Was mache ich denn nun mit ihm ?
Es kommt keiner auf die Idee, dass die Person im Rolli genau dieselben Wünsche haben könnte wie man selber hat. Oder : Die Person, die so heftig schielt, oder sonst wie auffällig ist.. die hat dieses . Aber den Schluss zu ziehen, dass das genau das gleiche sein könnte, wie man selber es sich wünscht, kommt einem nicht. Die ganz einfache Begründung dazu lautet : Er/Sie ist behindert. Schublade auf, und Schublade zu. Und die Schublade lautet : Neutral . Denn als das werden Behinderte ja angesehen. Sexualität ausgeschlossen. Deshalb werden auch viele Behinderte als neutrale Persönlichkeiten angesehen. Sex ? Hat nicht zu sein.
Nun zeigen aber Behinderte plötzlich, dass sie auch sexuelle Wesen sind. Was dann ? Es zerplatzt die Selbstverständlichkeit, mit der die Schublade bedient wird. Und auf einmal gucken die Leute völlig verstört. Denn die Person fällt völlig aus dem Rahmen. Damit rechnet keiner. Was nun ? Das unperfekte, das aus dem Rahmen fallende tritt ein, unübersehbar. Erschreckend. Nix mit perfektem Körper. Und auch nix mit Stöckelschuhen. Für genau diesen Fall gibt es nichts, wie man sich da dann verhalten soll.
Interessant wäre, wenn man die Leute befragen würde, was für Zuschreibungen Behinderte bekämen. Mit Sicherheit so Sachen wie :
Lustig, nett, freundlich, hilfsbereit, zerbrechlich. Aber eine Zuschreibung wird nie fallen : Erotisch.
Bis es so selbstverständlich wird, dass Menschen mit Behinderung als genauso selbstverständlich im Alltag angesehen werden – dauert es. Das wird nicht in diesem Jahrhundert sein.Wenn überhaupt, dann erst in einigen Jahrhunderten.
Ich habe mir den Text auch durchgelesen und verstehe – ehrlich gesagt – nicht, was den Herrn Gumbrecht bei seiner Vorlesung so aus der Fassung gebracht hat. War es das abweichende Aussehen des Zuhörers, das Rauschen seines Atemgerätes oder eine diffuse Angst, dass er gleich in eine Situation gerät, mit der er nicht souverän umgehen würde? Oder war er – so klingt es für mich – befremdet von seiner eigenen Faszination für diesen Menschen, den er eigentlich – als moralisch und intellektuell reflektierter Mensch – nicht anders in seinem Hörsaal empfangen sollte als jeden anderen Studenten?
flor, ja, so habe ich es auch gedeutet. Er hat gewissermaßen sich selbst beim Starren erwischt und fand das unsouverän, so dass er erleichtert sein konnte, in die routinierten Bahnen intellektuellen Austausches zurückzukehren. Aber das ist natürlich nur eine Vermutung. Schade, Herr Gumbrecht wird sicher nicht hier vorbeischauen….
timetohear, ich frage mich gerade wie es wäre, wenn zu den nächsten Paralympics (falls es sie noch einmal gibt) ein Kalender mit erotischen Fotos der Athleten herauskäme….
Ich glaube, das Problem ist, die meisten Leute halten sich für liberal, weil sie selten auf die Probe gestellt werde. Ein Beispiel: wenn man im Fernsehen einem Kotzbrocken wie Dr House sieht, findt man das lustig. Wenn man solchen Leuten real gegenübersteht, eher weniger. Bei vielen Leuten endet die Offenheit dort, wo sie etwa mit Behinderten in Kontakt kommen, habe ich oft genug erlebt. Aber ich denke, wir sollten souverän genug sein, um selbst das Eis zu brechen wie dieser Rolifahrer eben.
Stimmt. Und speziell beim Thema Sex bleibt einem, also eigentlich jedem, ja nun gar nichts anderes übrig, als für sich selbst das Eis zu brechen. Ich meine wenn es um Taten geht, nicht um Worte.
nqlb, ich vermute, dass dann etliche Leute schockiert sein könnten. Oder aber sie sehen es als Chance, mal einen anderen Blick darauf zu werfen, und zu sehen, dass es nicht unbedingt abschreckend sein muss.. das Fremde . Und Domingos, dem kann ich zu stimmen..
Wenn es um Sex geht, muss man seinen eigenen Weg dazu finden. Es ist nicht unmöglich.
Ich habe heute in Berlin ein neues Plakat der Aktion Mensch gesehen, auf dem zwei Teenager abgebildet sind. Dem Jungen fehlt ein Bein. Das Mädchen wirkt ganz unversehrt und ist obendrein ziemlich hübsch. Der Junge sieht auch ganz süß aus. Sie schauen etwas verlegen drein.
Dazu der Slogan: „Inklusion heißt: Schmetterlinge im Bauch“
Abgesehen von dem pädagogischen Impetus, der da ausgedrückt wird, mir das Wort Inklusion erklären zu wollen – und zwar auf diese bemüht pfiffige Art – könnte ich das Plakat ganz annehmbar finden.
Aber: Es gibt noch einen Untertitel:
„Alle Menschen sollen gleichberechtigt am Leben teilnehmen – mit oder ohne Behinderung. Damit gemeinsames Lernen selbstverständlich wird.“
Gemeinsames Lernen? Was auf dem Plakat dargestellt wird, sieht mir gar nicht nach Lernen aus (zumindest haben wir das früher nicht so genannt).
Warum haben die von der Aktion Mensch nicht geschrieben „Damit gemeinsames Flirten selbstverständlich wird.“ (oder so ähnlich)? Ist das dann vielleicht doch wieder ein bisschen zu viel Inklusion?
Das Plakat ist ganz unten auf dieser Seite zu finden: http://www.aktion-mensch.de/presse/pressemitteilungen/detail.php?id=1351&pt=ueberregional
Siehst Du mal, wie die da heutzutage in der Schule lernen. Nein, im Ernst, ich glaube, Du hast ganz recht. Wobei man ihnen zugute halten muss, dass man gemeinsames Lernen ja noch anordnen kann, gemeinsames Flirten aber kaum.
Wie war die Frage eigentlich im Ursprungstext?
Ob Rollaner oder Rollinen ihre Sehnsüchte nach Liebe in „vertrauter“ Zweisamkeit sowie Zärtlichkeit lediglich mit Hilfe von gewerblich motivierten Person erleben könnten?
Ich wünsche dem betroffenen Mann, mehr Mut zur längerfristigen Bindung ohne finanzielle Abhängigkeit.
Hoffe sehr, Du findest Dein Liebesglück … und reduzierst Dich nicht selbst weiterhin zum Sexualobjekt.
Und zum Plakat: Eventuell beim Kennenlernen verlegen zu wirken beim Flirten, betrifft wohl sehr viele Menschen.
@time to hear: 1 x Bestellung vom dem exemplarischen Kalender von Frau für Frau, denn
Ästhetik liegt im AUGE des Betrachters … 🙂
Schaut Ihr zuerst unterhalb der Gürtellinie oder eher oberhalb?
Ehrlich antworten bitte …
Auf Bald
@Ja, die schon wieder : Nein, ich denke nicht, dass man das ausschliesslich mit Hilfe von gewerblich motivierten Personen erleben kann. Mein Partner ist hörend, und auch nicht körperlich nichtbehindert. Knapp ausgedrückt : Für die Partnersuche gelten genau dieselben Regeln wie bei Nichtbehinderten auch. Was unter der Gürtellinie ist, interessiert erst in zweiter Linie. In erster Linie geht es darum, ob die Chemie zwischen beiden stimmt. Über den Rest entscheiden dann beide selbst, wie sie das machen. Ästhetik ist wirklich eine Frage des jeweiligen Betrachters.
Ich persönlich sehe mir erst mal oberhalb an. Und : Was nützt es mir einen Partner zu nehmen, mit dem ich nicht kann ( egal wie schön er auch aussehen mag ? ) Da spielen viele Faktoren eine Rolle.
@ Flor :Wieviel Inklusion will man denn ? Ganz ? Gar nicht ? Oder nur so halb ? Ist es denn noch so sehr Mittelalter, dass man da ganz vorsichtig sein müsste ? ich denke, wir leben im 21. Jahrhundert ? Für mich ist es eine Selbstverständlichkeit, denn ich gehöre dazu, punkt. Und ich nehme mir ebenso wie andere das Recht heraus, selber zu entscheiden, mit wem ich meine Schmetterlinge im Bauch erleben will. Ob das Leute ohne Behinderung auch so sehen.. Nicht immer, da sie ja nicht daran gewöhnt sind, dass auch Behinderte ( egal welche Behinderung sie haben) am Leben ebenso teilnehmen. Das kommt daher, dass bisher zuviel abgesondert wurde.
Vielleicht habe ich meine Kritik an diesem Plakat missverständlich ausgedrückt.
Dort soll Werbung für Inklusion gemacht werden. Das ist schön. Mir kommt das Plakat aber halbherzig vor. Man benutzt ein Foto mit einem starken Motiv – zwei junge Menschen, die Gefühle für einander entwickeln – Schmetterlinge im Bauch. Der eine sitzt im Rollstuhl. Die andere findet das ok. Sie sind verliebt. Als Botschaft im Text wird aber eben nicht das Verliebtsein formuliert (das wird nur als Eyecatcher benutzt), sondern es wird für „gemeinsames Lernen“ geworben. Dann hätte man logischerweise auch ein Foto auswählen sollen, auf dem es um Lernen geht: Glückliche Teenager mit und ohne Behinderung, die gemeinsam die Schulbank drücken, ein Referat halten oder etwas in die Richtung.
Ich war einfach enttäuscht von dem Text. Ich hatte das Gefühl, die Macher das Plakats hatten zwar eine gute Idee, sind dann aber auf halbem Wege stehen geblieben.
Hallo Flor! 🙂
Wenn schon Werbung für einen selbstverständlichen Lernprozess, dann bitte Sexualunterricht praktisch dargestellt. *kichernd* = Spass
Schlicht plakativ –> nur ein Pausenfüller?
Der Betrachter sollte vermutlich über die emotionale Ebene (alle Menschen waren schon einmal verliebt = Gemeinsamkeit) mit Betroffenheit angeregt werden.
Beide Plakate wirken irgendwie nach meinem Geschmack gekünstelt.
Es fehlen jeweils Sprechblasen mit gedanklichem Text (Dialog des Paares) gefüllt. Und ich vermisse vielfältig bunte Schmetterlinge grafisch.
Inklusion ist: Wir sind verliebt,
und lernen zusammen am Besten.
Flor, Du hast Dich im Übrigen keineswegs mißverständlich ausgedrückt.
Bis später