Neulich habe ich gesagt, schwerhörig Sein schaffe Platz im Kopf — leere Ecken, für Schränke zum Beispiel. Daraufhin habe ich einige mißbiligende Emails gekriegt. Und es war ja auch arg platt, das Bild. Jetzt aber mal im Ernst:
Diese räumliche Kästchenmetaphorik stimmt vorne und hinten nicht. Schwerhörig und selbst Taubsein, ist nicht nur ein Loch. Es bedeutet einen ganz anderen Zugang zur Welt, ein ganz anderes In-der-Welt-Sein. Weil das so ist, hört man ja auch mit Hörgeräten nicht „wieder gut“.
Wenn man einen Sinn verliere, hört man oft, würden die anderen schärfer. Das Beispiel sind meist Blinde und ihr Hören. Aber zumindest in meinem Fall ist es nicht ganz richtig. Und ich würde vermuten, dass das auch bei Blindheit so ist. Ich kann schon gut riechen und schmecken, sicher auch besser als manche andere. Jedenfalls wenn ich mir so anschaue was erstaunlich viele Leute klaglos essen oder wie sie sich in AfterShave baden. Aber ich glaube nicht außerordentlich gut. Und ich kann auch nicht schärfer sehen. Ganz im Gegenteil, ich bin etwas kurzsichtig.
Allerdings: Ich kann Leute lesen. Ich bin schon aufgestanden, zu Freunden auf der Nachbarbank rübergegangen und habe sie aufgefangen, weil ich gesehen hatte, dass sie gleich ohnmächtig werden würden. Meins ist ein ganz feines Gefühl dafür, wie Leute so drauf sind, wie es ihnen geht und in welcher Stimmung sie gerade sind. Ganz unwillkürlich schau ich sie mir sehr genau an. Was sie tun, wie sie sich halten, wie sie sitzen, wie sie lachen. Ich sehe die kleinen Anzeichen, wie sie aus ihrem Körper heraus und in die Welt hinein schauen. Und wie sie auf das reagieren, was ihnen dort so passiert. Ängstlich, mürrisch, beleidigt. Oder ruhig, offen und neugierig. Sind sie glücklich?
All das will ja nicht jeder unbedingt immer zeigen. Darum hab ich mir auch schon anhören müssen, dass es ein bißchen unheimlich sei mit mir.
Woher kommt das? Ist es Übung? Ausgleichende Gottesgabe? Vielleicht von beidem ein bißchen…